Aus Ausgabe 3-4/95 (Sommer)

amnesty international und Totale KDV - ein neuer Ansatz

Praktisch seitdem Totalverweigerung eine politisch wahrnehmbare Dimension erreicht hat, existiert auch eine Auseinandersetzung mit amnesty international, warum Totale Kriegsdienstverweigerer angeblich keine "Gewaltlosen Politischen Gefangenen" sind. Nachdem es um diese Kontroverse in Deutschland in den letzten Jahren wieder ruhiger geworden ist, wird nun auf internationaler Ebene versucht, eine Änderung der Anerkennungsrichtlinien für Kriegsdienstverweigerer bei ai zu erreichen.

Im Sommer '94 griff Markus Kemmerling in der Österreichischen "Zeitschrift für Antimilitarismus" (ZAM 5/94) das Thema anhand des Falles Helmut Hejtmanek (OU 2/93, 3-4/93, 6/93) auf. ai hatte sich für den Totalverweigerer Helmut eingesetzt und im dazugehörigen Jahresbericht erklärt: "In der Regel betrachtet die Organisation zwar Totalverweigerer nicht als gewaltlose politische Gefangene, eine Ausnahme bilden jedoch Wehrpflichtige, die unter Berufung auf Gewissensgründe die Ableistung eines alternativen Dienstes beantragen, ihr Antrag aber abgewiesen wird. Selbst wenn sie sich daraufhin zur Totalverweigerung entschließen - eine Entscheidung, die häufig erst durch die Ablehnung ihres Antrags auf Ableistung des Zivildienstes ausgelöst wird -, setzt sich amnesty international im Fall ihrer Inhaftierung für die Freilassung der betreffenden Personen ein."

Hierzu schreibt Kemmerling in der ZAM: "Zunächst erstaunt es, daß ai Totalverweigerer, die sicherlich gewaltlos und politisch agieren und deswegen inhaftiert werden, nicht als das bezeichnet, was sie sind: gewaltlose politische Gefangene. Es wäre ehrlicher einzugestehen, daß ai - aus welchen Gründen auch immer - sich nicht für alle gewaltlosen politischen Gefangenen einsetzt."

Im folgenden vermutet Kemmerling, daß der "Grund für amnesty's Spagat in Hinblick auf Totalverweigerer darin liegt, daß sich die Organisation eng an internationalen Menschenrechtskonventionen orientiert. Da diese ja nicht von 'freien Bürgern', sondern von staatlichen VertreterInnen formuliert werden, schränken sie auch die Menschenrechte an einigen wichtigen Punkten explizit ein - dort, wo es um entscheidende Zugriffe des Staates auf seine BürgerInnen geht."

Sicherlich richtig geschlußfolgert dabei ist, daß sich ai bis zu einem gewissen (hier offenbar zu weit gehenden) Grad von staatlichen Definitionen von dem, was grundsätzlich legitim sei, abhängig macht. So stellt auch beispielsweise die Wehrpflicht für ai kein eigenständiges Problem dar; aktiv wird ai (ggf.) erst im Einzelfall, wenn durch die Wehrpflicht beispielsweise das Menschenrecht Gewissensfreiheit berührt wird.

Diese einzelfallbezogene Herangehensweise ist aber das grundsätzliche und keineswegs prinzipiell problematische Vorgehen von ai und erklärt noch nicht von alleine, warum ai Totalverweigerer aus der Definition der Gewaltlosen Politischen Gefangenen ausnimmt. Schließlich findet die Gewissensfreiheit durchaus in den von Kemmerling angeführten Menschenrechtskonventionen durchgehend Erwähnung - auch wenn diese im Konflikt mit den international als zulässig angesehenen

"Dienstleistungen militärischen Charakters oder im Falle der Verweigerung einer sonstigen an Stelle der militärischen Dienstpflicht tretende Dienstleistung" steht. Gerade hier ergäbe sich für ai die Möglichkeit, die 'Konfliktfälle' zu thematisieren und auf die Widersprüchlichkeit dieser internationalen Regelungen hinzuweisen, in denen die Freiheitsrechte des einzelnen der Staatsraison offenbar untergeordnet sind. Und zwar soweit, daß hierdurch Gewaltlose Politische Gefangene 'gemacht werden müssen'.

Claus Rick, ai-Beauftragter für die Griechenland/Zypern-Koordination, stellt in einem Brief zu der TKDV-Frage einen weiteren Grund dar, warum das ai-Mandat vor Totalverweigerern halt macht - und warum also ai "sich nicht für alle gewaltlosen politischen Gefangenen einsetzt": "Allein aus praktischen Gründen muß irgendwo eine Linie gezogen werden, die angibt, wo unsere Arbeit anfängt und wo sie aufhört. Dies ist schlicht aus Kapazitätsgründen notwendig." Wobei Rick durchaus erklärt: "Dies bedeutet nicht, daß wir den Totalverweigerern absprechen, aus Gewissensgründen zu handeln." Also Menschenrechtsarbeit, bei der Menschenrechte nach Arbeitskapazitäten definiert werden?

Menschenrechtsarbeit, bei der sich derjenigen KDVer angenommen wird, die bereit sind, einen indirekten Kriegsdienst zu leisten ("wo unsere Arbeit anfängt..."), aber nicht derjenigen, deren Gewissensentscheidung weitergehend ist, die also auch einen Ersatz für etwas grundsätzlich Schlechtes ablehnen ("... und wo sie aufhört")? Das ist wohl etwas sehr makaber, und es kann eigentlich nur gehofft werden, daß Claus Rick hier doch etwas unbedacht solche Zeilen darniederschrieb.

Ein dritter Grund, der allerdings mit dem ersten - der Orientierung an staatlichem Denken - zusammenhängt, liegt wohl auch darin, daß sich viele ai-Mitglieder vom gesellschaftlichen Bild des ZD und der TKDV leiten lassen. Nach dem Motto: Wir setzen uns für die Folteropfer der 'Dritten Welt' ein, aber doch nicht für die kriminellen Drückeberger, die den guten ZD in der freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht leisten wollen, - wird hier nicht ein neutraler Maßstab angelegt, sondern der Behandlung der Totalverweigerer durch den Staat inhaltlich gefolgt.

Solche Kommentierungen sind leider bereits zu häufig gefallen, als daß hier von Ausnahmen gesprochen werden könnte. Die Stellen bei ai, die über diese Sichtweise hinausgekommen sind, sind daher aufgefordert, in ihren Verbänden die Entwicklung des Themas voranzubringen (aber ggf. ebenso TKDVer, die solche Entwicklungen in den Verbänden mit anstoßen können).

Wie sehr doch bürgerliche Vorstellungen von der Tragweite einer 'Kriegsdienstverweigerung' nach Art.4 Abs.3 GG auch bei ai vorherrschen, läßt sich ebenfalls beispielhaft aus der Stellungnahme Ricks entnehmen:

"Der gegenwärtig zu leistende Zivildienst kann nur schwer als indirekte Unterstützung des Militärs aufgefaßt werden. Beispielsweise sind in unserem Büro in Bonn einige ZDLs eingesetzt. [Soll das 'Begründung' für die vorgenannte These sein?!; db] Außerdem hat jeder KDVer durch seine Verweigerung klar gemacht, daß er sich im Fall der Fälle jeder Unterstützung der 'Kriegsmaschinerie' entziehen würde."

Die derzeitigen Richtlinien zur Anerkennung von KDVern als Gewaltlose Politische Gefangene sind zum letzten Mal 1991 überarbeitet worden (siehe Kasten). Hiernach würde der Zwang zu "indirekter Beteiligung" an Kriegsdiensten durchaus unter das Mandat von ai fallen. Punkt 5 der Richlinien ist gültiger Mandatspunkt, die Diskussion ist also bei ai zur Zeit offener, als dies früher der Fall war. Problematisch bleibt dabei als erstes, daß die Beweislast bei den 'Angeklagten' liegt - nicht ai legt dar, warum bspw. der bundesdeutsche ZD nicht indirekter Kriegsdienst sein soll, sondern wir müssen beweisen, daß er dies ist. Unverständlich, daß ai diese auf der Hand liegenden und tausendfach wiederholten Beweise noch nicht wahrgenommen zu haben scheint.

Zweitens, und hier setzt ein radikalerer Ansatz an, ist jeder Ersatzdienst ein integraler Bestandteil und Stütze eines Wehrpflichtsystems, und schon von daher können Gewissensgründe gegen die Ableistung eines solchen sprechen (vgl. auch Par.15a ZDG). Diesen Ansatz machten nun die Internationale der KriegsgegnerInnen und das Internationale Treffen der Kriegsdienstverweigerer zum Thema. In einer detaillierten Erklärung wird ausgeführt, warum die Anerkennung von Totalverweigerern als Gewaltlose Politische Gefangene nicht von der speziellen Art des Ersatzdienstes abhängig gemacht werden darf (siehe Kasten). Dieser Erklärung und Aufforderung an ai, die bestehenden Richtlinien zu ändern, schloß sich das Bundestreffen der Totalverweigerer 1995 an (vgl. Bericht). Der Text soll Grundlage für die nationalen Sektionen von ai sein, sich der Thematik anzunehmen, die eigene Position zu überdenken und Stellung zu beziehen.

Derweil hat die spanische Sektion von ai einen Antrag für den Internationalen Rat im August 1995 formuliert, daß TKDV'er als Adoptionsfälle von ai betreut werden dürfen. Das würde eine weltweite Mandatserweiterung bedeuten - wenn der Antrag durchkommt. Die deutsche Sektion hatte dies ebenso vor vielen Jahren zweimal versucht und war gescheitert. Aber es soll ja nie zu spät sein... (db)

Ergänzende Texte:

Kontakt:
amnesty international - Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V.
53 108 Bonn
Tel: 0228-98 37 30
Fax: 0228-63 00 36


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