TKDV-Prozeßbericht

Sven Hartjenstein, LG Darmstadt, 13. August 1998


Totaler Kriegsdienstverweigerer Sven Hartjenstein in Berufungsverhandlung von Darmstädter Landgericht zu 6 Monaten Freiheitstrafe auf 3 Jahre Bewährung sowie 250 Stunden "gemeinnütziger Arbeit" verurteilt.

Der 22-jährige Totalverweigerer Sven Hartjenstein, der im März 1998 vom Amtsgericht Darmstadt zu sechs Monaten Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt wurde, legte damals Berufung gegen dieses Urteil ein. Somit kam es am 13. August 1998 zur Hauptverhandlung am Landgericht Darmstadt.

Angeklagt und in erster Instanz verurteilt war Hartjenstein, "Dienstflucht" (§ 53 I Zivildienstgesetz) begannen zu haben. Die "Dienstflucht" sowie die "Fahnenflucht" (§ 16 I Wehrstrafgesetz) kann mit maximal fünf Jahren Freiheitsentzug bestraft werden.

Sven Hartjenstein hatte auf Raten seines Rechtsanwaltes Harald Astheimer aus Rüsselsheim im Vorfeld der Berufungsverhandlung einen umfangreichen Schriftsatz bei Richter Guhl (Vizepräsident des LG) mit einer Erklärung seiner
Gewissensentscheidung, den Kriegsdienst total zu verweigern, eingereicht. Nach der Personalienfeststellung und der Verlesung des Amtsgerichtsurteils, in der keine Gewissenstat erkannt wurde, fragte Richter Guhl nochmal nach persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen, was Hartjenstein auch detailliert beantwortete.

Als Hartjenstein der Frage nachkam, sich zur Anklage zu äußern, und seine Totale Kriegsdienstverweigerung aufgrund seiner Gewissensentscheidung als mittelbaren Beitrag gegen den Kriegsdienst erklären wollte, unterbrach ihn der Richter nach kurzer Zeit in seinen rhetorisch frei gehaltenen Darlegungen zur Einplanung der Zivildienstleistenden im Krieg in der Gesamtverteidigungskonzeption der BW. Richter Guhl wollte wissen, was für einen unmittelbaren Beitrag Hartjenstein bei
seiner Zivildienststelle "Freundeskreis Eberstädter Streuobstwiesen e.V." zum Krieg leistete. Sven Hartjenstein erklärte, daß ein direkter Bezug zu Kriegsdiensten im Moment nicht gegeben sei, daß aber strukturelle Einplanung der Zivildienstleistenden für den Kriegsfall der Grund seiner Totalverweigerung seien.

Richter Guhl wollte wissen, "Wann sind Ihnen diese Erkentnisse eigentlich gekommen?" Sven Hartjenstein antwortete, daß er eine Woche vor dem Einberufungstermin mit Bekannten über die Einplanung gesprochen habe, und er in der Folgezeit zur Gewissensentscheidung gekommen sei. Nach drei Wochen hat Sven die Zivildienststelle verlassen. Seine Totalverweigerung sehe er als Pflicht an, weil sein Gewissen ihn dazu auffordere, und das Gewissen sei verfassungsrechtlich geschützt. Daraufhin meinte Richter Guhl, daß die Entscheidungen des BVerfG (er meinte hier die BVerfGE vom 4.10.1965, abgedruckt in UrIS Nr. 235), das Ableisten des Militärersatzdienst verstosse nicht gegen
das Grundrecht auf Gewissensfreiheit, ihm "bis vorgestern auch nicht bekannt gewesen" seien, ihm aber zumindest bekannt gewesen sei, daß die "Zivildienstverweigerung" nicht legitim sei. Mit diesem Leitsatz wollte Richter Guhl von Sven wissen, ob ihm die Bestrafung bewußt gewesen sei, und ob die "Alternative" des "freien Arbeitsverhältnis" nach § 15a ZDG Sven nicht in seiner Gewissensentscheidung aushelfe. Sven betonte, daß ihm erst sehr spät die Möglichkeit des § 15a ZDG bekannt wurde, daß dieses "freie Arbeitverhältnis" für die "Zeugen Jehovas" konzipiert wurde sowie die Einplanung, die auch für das § 15a-Arbeitsverhältnis gelte.

Leider ging Sven gerade bei diesem relativ lange diskutierten Punkt zum § 15a ZDG und auch während des gesamten Prozesses nicht auf das Zwangsdienstverhältnis und die Entrechtung der Zivildienstleistenden in bezug auf Grund- und
Arbeitsrechte sowie Disziplinarstrafen, nicht ein. Statt dessen ergab sich eine Erklärung seinerseits zu Religion, Buddhismus und Gewaltfreiheit. Sven antwortete knapp auf die Frage des Schöffen Horst Otto (von Beruf Magistratsrat), wie seine Meinung sei, "Zivildienst im Krankenhaus abzuleisten, und diesem zu helfen?", daß der Zivildienst attraktiv wäre wegen den Billiglöhnen und es dadurch eine Arbeitsplatzproblematik gäbe, er die "Grundinhalte" des Zivildienstes aber als positiv erachte. Er meinte damit wohl die Hilfe am Menschen, betonte dabei aber nicht die destruktiven Auswirkungen
der fehlende Fachausbildung und Motivation der Zwangsarbeiter.

Nachdem Sven nocheinmal den Zusammenhang von pflegerischen Zivildiensten und Kriegsdiensten in Lazaretten herstellte, betonte, daß Präventionsmaßnahmen wie "Rüstungsexporteinstellungen, Soziale Verteidigung und 'Ziviler Friedensdienst'" notwendig wären, entließ Richter Guhl ihn mit den Worten, "Ich wollte, Sie hätten Recht!" in die 10-minütige Pause. Nach der Pause bat Rechtsanwalt Astheimer Sven, nochmal die Entwicklung seiner
Gewissensentscheidung chronologisch darzulegen, was dieser auch sehr umfangreich tat. Die Jugendgerichtshilfe, die anwesend war, weil Sven während der "Tatzeit" noch keine 21 jahre alt war, bestätigte eine geradlinige Entwicklung und
plädierte dafür, das allgemeine Strafrecht anzuwenden.

Nachdem die Beweisaufnahme abgeschlossen war, verließ der Staatsanwalt die Anklage, in der er Svens Gewissensentscheidung erkannte, Gewissensentscheidungen als vom Grundgesetz geschützt wußte, diese aber nicht "grenzenlos" seien. Sven habe den Tatbestand bewußt und schuldhaft erfüllt, er erkenne auch keine Reifeverzögerung, und wolle deswegen auch das allgemeine Strafrecht angewandt sehen. Der Straftatbestand § 53 I ZDG, "Diensflucht", sehe grundsätzlich keine Geldstrafe vor. Auch wenn es nach § 47 StGB für eine Geldstrafe die Möglichkeit gäbe, sei wegen der "Wahrung der Disziplin" bei den Zivildienstleistenden - gerade auch wegen des Pflegenotstandes - der "Ausschluß einer Geldstrafe" (§ 56 ZDG) anzuwenden. Bei allem "Wohlwollen" gegenüber Svens Gewissensentscheidung schränke dessen Totalverweigerung den "Gleichheitsgrundsatz zu anderen Zivildienstleistenden" ein. Mit dieser Begründung beantragte der Staatsanwalt sechs Monate Freiheitsentzug, auf drei Jahre Bewährung ausgesetzt, die Ableistung von 500 Stunden "gemeinnütziger Arbeit" sowie die Kosten des Verfahrens für Sven.

Dann kamen die nicht ganz 10 Minuten des Rechtsanwalts Harald Astheimer. Dieser erschien leise, nicht sehr dynamisch und auch nicht sehr selbstbewußt. Er erklärte, daß Ziel der Hauptverhandlung sei für ihn (und seinen Mandanten) gewesen, die Gewissensentscheidung anerkannt zu bekommen. Es sei "unerträglich" gewesen, die 6 Monate im Urteil des AG DA zu akzeptieren, weswegen auch das Ziel sei, das Urteil aufzuheben. Er zitierte noch zwei, drei Sätze aus dem 1994er Weißbuch der BW zur Gesamtverteidigung, eine Entscheidung des BayOLG von 1992, welches die Strafzumessung am untersten Rahmen" für TKDVer vorsehe, und das Geldstrafen und Verwarnungen ausgesprochen werden können. Er beantragte vor Gericht, das Urteil des Amtsgerichtes aufzuheben, und eine "milde, angemessene Strafe" (sic!).

Sven nahm das Recht als Angeklagter das letzte Wort zu sprechen nicht wahr.

Das Urteil erging wie folgt: Sechs Monate auf drei Jahre Bewährung, 2/3 der Verfahrenskosten sowie 250 Stunden "gemeinnützige Arbeit". Begründung: Sven sei "überzeugter Gewissenstäter". Die Gewissenfreiheit (Artikel 4 I Grundgesetz) werde durch Artikel 12a GG und dem KDVG eingeschränkt, weswegen eine Straffreiheit für Sven nicht zutreffen könne. Um die Wahrung der Disziplin bei den Zivildienstleistenden (§ 56 ZDG) einzuhalten, könne er keine Geldstrafe verhängen, da die Bewährungsstrafe präventiv wirke. Er setze die Haftstrafe auf Bewährung aus, da Sven keinerlei andere "kriminelle Energien" aufweise.

Rechtsanwalt Astheimer erklärte vor Prozeßbesuchern während der Bedenkzeit des Gerichts, daß er keinen prinzipiellen Freispruch beantragen würde, weil "die mehrheitliche Rechtssprechung" dagegen spreche und er sich "nicht lächerlich"
machen wolle. Allerdings erklärte dieser nicht, wie eine "mehrheitliche Rechtssprechung" zu Gunsten eines Freispruches wegen der Gewissensentscheidung den Kriegsdienst total zu verweigern, bei einer Vorgehensweise wie seiner, zustande kommen könne. Leider hatte er auch nicht die Motivation, die interessante Frage, nämlich die der verfassungsrechtlichen Priorität der Gewissensfreiheit (auch Religionsfreiheit, weltanschauliche Bekenntnisse, siehe Art. 4 I GG) vor der im Grundgesetz verankerten Wehrpflicht (Art. 12a GG).

Nach Äußerungen von Sven Hartjenstein war mit RA Astheimer im Vorfeld abgesprochen, daß er beantragen werde, das Urteil aufzuheben, nicht aber, daß er eine "milde, angemessene Strafe" vor Gericht beantrage. Sven relativierte allerdings die Zweifel von Prozeßbesuchern, ob das Vertrauensverhältnis somit nicht verletzt wurde. Er versuchte, zu rationalisieren, daß es vielleicht taktisch klüger gewesen sei, den Richter "nicht zu verärgern", und somit nicht Freispruch zu fordern. Leider widerspricht die Ansicht, taktisch mildere Strafen einzufordern, somit zu hoffen, daß RichterInnen wirklich milder bestrafen, der Praxiserfahrung, und auch der prinzipiellen, juristischn Zielsetzung der Totalverweigerungsbewegung, Freisprüche in der Rechtssprechung zu erkämpfen und letztendlich aufgrund des Artikel 4 Absatz 1 Grundgesetz durchzusetzen.

Torsten Froese,

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