Aus Ausgabe 6/95-1/96 (Winter)

Prozeß gegen den Totalverweigerer Heiko Marquardt

am 6. Dezember 1995 vor dem Landgericht Berlin. Ein Bericht von Kai Osterhage

Zum achten und vermutlich letzten Mal wurde Heiko wegen seiner weit zurückliegenden Dienstflucht am 6.12.95 um 9:00 Uhr vor das Landgericht Berlin geladen. Nachdem in einem Zeitraum von über zwei Jahren mehrere Urteile in verschiedenen Instanzen aufgehoben wurden, sollte nun erneut über das Strafmaß entschieden werden. Am 8.3.93 war Heiko zu 100 Tagesätzen zu 30,- DM verurteilt worden. Im Detail ist das bisherige Verfahren in der OHNE UNS 3-4/95, 1/95, 3-4/94, 6/93 und 2/93 nachzulesen.

Mit kurzer Verspätung wurde das Verfahren durch die vorsitzende Richterin des Schöffengerichts eröffnet. Es folgte das übliche Prozedere der Personalienaufnahme. Anschließend interessierte die Richterin sich detailiert für Heiko's Arbeits- und Einkommensverhältnisse: "Was arbeiten Sie?", "Was verdienen Sie monatlich netto?", "Was arbeiten Sie da genau?", "Sie haben ein Kind?", "Zahlen Sie für das Kind Unterhalt?"

Damit die Schöffen auch verstünden, um was es gehe, werde sie jetzt die Verlesung der alten Urteile vornehmen, lies die Richterin vernehmen und begann mit monotoner Stimme und maschinengewehrartiger Geschwindigkeit die alten Urteilsschriften zu verlesen. Ihr war z. T. nicht zu folgen, dies ließ jedoch scheinbar alle Prozeßbeteiligten unbeeindruckt. Insbesondere die Staatsanwältin gab sich betont desinteressiert. Dieser Teil des Prozesses nahm gut die Hälfte der Gesamtzeit ein.

Während des letzten Prozeßtermins reichte Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck einen Beweisantrag ein, zu dem der Leiter des Kreiswehrersatzamtes (KWEA) Berlin sowie der Leiter des Bundesamtes für den Zivildienst (BAZ) als Zeugen befragt werden sollten. Es ging um die Tatsache, daß die Westberliner Jahrgänge 1967 nicht einberufen wurden. Da Heiko Ostberliner gleichen Jahrgangs ist, würde seine Einberufung gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoßen. Die Zeugen hatten sich mittlerweile schriftlich geäußert, so konnte wohl von einer Vorladung abgesehen werden. Der Vertreter des KWEA Berlin bestätigte laut Richterin, daß diese Jahrgänge nicht gemustert und herangezogen wurden. Das BAZ ließ vermelden, daß erst ab Jahrgang 1969 erfasst und gemustert wurde. Im übrigen würden die laut Einigungsvertrag aus der DDR übernommenen Verwaltungsakte Gültigkeit behalten.

Bevor es zu den Plädoyers kam, wurde Heiko befragt, ob er etwas zur Sache sagen wolle. Heiko: "... ist ja wohl der letzte Termin ..." Richterin: "Ja, ich hoffe ...!" Also verlas Heiko eine sehr kurz gehaltene Erklärung, die seine Zermürbung und Resignation widerspiegelte. Er beuge sich der Gewalt. Ansonsten habe er sich in den verschiedenen Verhandlungen ausgiebig zur Sache geäußert und wolle dem nichts weiter hinzufügen.

Die Staatsanwältin ergriff das Wort. Sie stellte fest, daß Heiko Dienstflucht begangen habe ... Alle Argumente seien hinlänglich bekannt. Trotzdem meinte sie, eine solche Gewissensentscheidung könne mit Wohlwollen nur Zeugen Jehovas zugebilligt werden. Für sie sei in Heikos Standpunkt keine Gewissensentscheidung zu erkennen. Eine Freiheitsstrafe von 4 Monaten sei angemessen, auch aufgrund der langen Dauer des Verfahrens. Eine Geldstrafe sei ausgeschlossen wegen Wahrung der Disziplin im Zivildienst (blabla - Generalprävention etc.) aber eine Bewährung von 2 Jahren sei drin. Weiterhin erzählte sie etwas von Wahrung der demokratischen Rechtsordnung, ohne dabei zu erklären, wie dies unter Beibehaltung der DDR-Verwaltungsakte möglich sei ...

Anwalt Wolfgang Kaleck begann sein Plädoyer mit den Worten: " Das alte Denken hat gesiegt!" Es habe bisher 8 Termine gegeben, Heiko sei dreimal befragt worden und habe sich dreimal eingelassen. Zuletzt habe das Kammergericht nur das Nadelöhr der Strafzumessung gelassen - jetzt beuge sich Heiko der Gewalt. In Richtung Staatsanwältin meinte er, die Äußerungen bezüglich der Zeugen Jehovas seien ja wohl Quatsch. Er müsse sich zusammenreißen, um hier nicht polemisch zu werden, was ihm ob der Befremdlichkeit der Aussagen der Staatsanwältin schwer fallen würde. Es sei ja wohl eine Binsenweisheit, daß Kriege nicht mehr so ablaufen würden wie im 19. Jahrhundert, sondern im Rahmen einer Generalmobilmachung. Der Zivildienst sei dabei Teil der Gesamtverteidigung. Dies würde von den Staatsanwaltschaften i. d. R. auch gar nicht bestritten. Wolfgang Kaleck erwähnte die vor kurzem in Eisenach stattgefundene Tagung zur TKDV, bei der Personen wie z. B. Prof. Dr. Ernst Gottfried Mahrenholz, Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts a. D. verlauten ließen, sie seien schwer ins Nachdenken gekommen.

Die Qualität einer Rechtsordnung ließe sich nicht daran messen, daß sie sich demokratisch nenne. Gewissensentscheidungen vor 50 Jahren hätten sich heute als richtig erwiesen, spielte Wolfgang Kaleck auf die Deserteure des zweiten Weltkrieges an. Die Unrechtsurteile von damals wurden bis heute gesetzlich nicht wieder gut gemacht. Es bliebe Mißtrauen, deshalb: Das alte Denken habe gesiegt. Weiter erwähnte er die Rechtssprechung des OLG Düsseldorf, welches einmal ausführte, daß es der demokratischen Grundordnung widerspreche, sich als Beweis der Gewissensentscheidung tötn zu lassen. Unausgesprochen stand dabei die Frage an die Staatsanwältin im Raum, welchen Beweis für Heikos Gewissensentscheidung sie denn gerne hätte.

In der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht wurde damals von Wolgang Kaleck Freispruch beantragt. Da Heiko seinerzeit keine Berufung eingelegt hatte und jetzt nur noch die Strafhöhe zur Debatte stand, konnte Freispruch nicht mehr gefordert werden. Der Anwalt beantragte in dieser Verhandlung also Verwerfung der Berufung.

Nun sollte es in die Pause zur Urteilsfindung gehen. Völlig unerwartet fragte die Richterin den Protokollanten dieses Berichts, für wen er sich denn Notizen machen würde. Meine etwas geplättete Antwort: "In erster Linie für mich selbst." Daraufhin ordnete die Richterin die Beschlagnahme der handschriftlichen Notizen an. Als ich nach Beendigung des Prozesses eine Beschlagnahmequittung verlangte, wurde mir als Alternative die Vernichtung der Unterlagen angeboten. Dies lehnte ich unter dem Hinweis ab, daß ich natürlich vor hätte, das Material zu veröffentlichen. Selbstredend hatte ich ebenfalls vor, gegen die Beschlagnahme rechtlich vorzugehen. Nach einigen Minuten Warterei bekam ich statt der Quittung meine Unterlagen zurück (sic!).

Die Pause sollte 10 Minuten dauern und mensch fand sich danach wieder im Gerichtssaal ein. Die Richterin verkündete das Urteil: drei Monate auf zwei Jahre Bewährung sollten es sein. Geldstrafe wäre nicht möglich, schließlich könne sich ja nicht jeder Zivi so billig freikaufen. Fazit: Für Heiko sicherlich ein geringer Fortschritt, da er bei diesem Urteil wenigstens nicht vorbestraft ist und auch die Geldstrafe nicht mehr bezahlen muß. Ansonsten bleibt das Urteil am unteren Ende des statistischen Mittels und scheint daraufhin zu deuten, daß Urteile wie im Fall Oliver Bauer (sechs Monate ohne Bewährung) in Berlin wohl die Ausnahme bleiben.


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