Aus Ausgabe 6/95-1/96 (Winter)

ECOM 1995 in Griechenland

Bericht von Detlev Beutner (Totalverweigererinitiative Braunschweig)

Vom 27. August bis zum 3. September 1995 fand auf der griechischen Insel Ikaria (dort, wo Ikarus beim Sonnenflug abgestürzt war), kurz vor der türkischen Küste, das Europäische Treffen der Kriegsdienstverweigerer (European Conscientious Objectors Meeting - ECOM 1995) statt. Etwa 60 TeilnehmerInnen aus 15 Ländern (Dänemark, Deutschland, England, Finnland, Frankreich, Griechenland, Kroatien, Niederlande, Norwegen, Österreich, Paraguay, Rußland, Serbien, Spanien, Türkei) nahmen hieran teil.

Die internationalen KDV-Treffen haben in den letzten Jahren in nicht unwesentlicher Linie dazu gedient, die KDV-Bewegungen in den Ländern, wo die Treffen jeweils stattfanden, zu stärken. So stand auch die griechische Situation folgerichtig zu Beginn des Treffens im Mittelpunkt und durchzog auch die weiteren Diskussionen in der Woche. Zunächst stellte Spyros Psychas die derzeitge Situation dar:

Die Gesetzeslage in Griechenland

Die einzige gesetzliche Regelung über "Kriegsdienstverweigerung" in Griechenland lautet wie folgt: "Jeder, der es ablehnt, Waffen zu tragen, muß einen unbewaffneten Dienst der doppelten Länge des bewaffneten Dienstes abzuleisten. Verweigert er dies, wird er zu einer Freiheitsstrafe der gleichen Länge verurteilt. Darüberhinaus kann diese Bestimmung in Zeiten der Generalmobilmachung oder des Krieges durch eine einfache Entscheidung des Nationalen Verteidigungsministers ausgesetzt werden." (Gesetz 1763/1988)

Die Griechische Vereinigung der Kriegsdienstverweigerer kennt niemanden, der einen solchen unbewaffneten Dienst ableisten wollte oder abgeleistet hätte. Im Gegenteil wird dieser unbewaffnete Militärdienst von den Verweigerern deshalb abgelehnt, da die Gründe für die Verweigerung niemals nur den unmittelbaren Waffengebrauch betreffen, sondern vielmehr das Ergebnis einer umfassenden Philosophie und einer grundsätzlich anderen Art des Lebens sind.

Waffenloser Dienst wird heutzutage bereits von einem Drittel der Wehrdienstleistenden verrichtet - allerdings nicht etwa, weil sie Verweigerer wären, sondern aus anderen - technischen - Gründen. Etwa 18 Prozent der Wehrpflichtigen leisten daneben überhaupt keinen Dienst: jeweils fünf Prozent aus physischen oder psychischen (echten oder vorgetäuschten) Gründen, weitere acht Prozent haben das Land verlassen oder leben als "Wehrpflichtvermeider" innerhalb des Landes.

Diese Wehrpflicht-Vermeider melden sich nicht in der Armee, werden dadurch aber bis zum 50. Lebensjahr - mehr oder minder - gesucht. Darüberhinaus gibt es gesetzliche Einschränkungen gegen die Vermeider: Sie verlieren ihre bürgerlichen Rechte, können einige Berufe nicht ausführen, können nicht legal aus Griechenland ausreisen und keinen Reisepaß beantragen oder verlängern lassen.

Die gleichen Folgen hat die offen politisch motivierte Verweigerung. Normalerweise senden die Verweigerer ihre persönliche Erklärung in Form eines Briefes an die Wehrersatzbehörden. Daraufhin meldet sich die Polizei mindestens zweimal, um sich nach den Gründen für das Nichterscheinen zu erkunden. Anschließend wandert der Fall zu den Militärbehörden, bei denen sich ein spezialisierter militärischer Untersuchungsrichter um die Sache kümmert. Der Untersuchungsrichter lädt den Verweigerer vor, und wenn der KDVer auf diese "Einladung" nicht reagiert, wird ein Haftbefehl erlassen. Deshalb wird den Verweigerern auch geraten, während dieser Zeit den Wohnort zu wechseln, um eine Verhaftung zu vermeiden.

Die religiösen Verweigerer dagegen melden sich in den Kasernen, verweigern dort jedoch die Ausführung jeglicher Befehle, was den Straftatbestand der "Gehorsamsverweigerung" (Wehrstrafgesetz) erfüllt. Zur Zeit sind etwa 350 Zeugen Jehovas inhaftiert, davon allein 130 im Militärgefängnis von Thessaloniki.

Die Strafe für die Verweigerung beträgt in Friedenszeiten sechs Monate, in Zeiten der Generalmobilmachung (wie dies zur Zeit in Griechenland seit 1974 der Fall ist - vgl. Zypern-Konflikt) werden dagegen bis zu vier Jahre verhängt, von denen jedoch das letzte Jahr im allgemeinen zur Bewährung ausgesetzt wird. Die politischen Verweigerer, die ihre KDV öffentlich erklären, werden jedoch (bspw. im Gegensatz zu den Zeugen Jehovas), soweit es überhaupt zum Prozeß kommt, meist zu Bewährungstrafen verurteilt; in lediglich vier Fällen wurden bisher Knaststrafen ohne Bewährung (21, 16, 8 und 4 Monate) ausgesprochen.

Nach dem neuen Wehrstrafgesetz vom 1. August 1995 wird die Gehorsamsverweigerung aus Gewissensgründen nicht mehr als Verbrechen, sondern "nur noch" als Vergehen geahndet. Ob und wenn, welche Auswirkungen das auf die tatsächlichen Strafen haben wird, muß erst abgewartet werden.

Die Verfassungslage

Nach Art. 4 der griechischen Verfassung "muß jeder Grieche, der Waffen tragen kann, entsprechend den Gesetzen seinen Beitrag zur Verteidigung des Landes leisten." Die militärische Führung und konservative PolitikerInnen schlußfolgern nun, daß dieser Artikel eine gesetzliche Regelung über Kriegsdienstverweigerung unmöglich macht. Im Gegensatz dazu gehen die griechischen Verweigerer davon aus, daß die Verfassung eine Regelung der gesamten Problematik gestattet.

Nach der liberalen Interpretation von mindestens zehn Jura-Professoren an griechischen Universitäten existiert deshalb kein verfassungsrechtliches Problem, da der Verweigerer eben gerade keine Waffen tragen kann, da sein Gewissen ihm die Waffenanwendung oder die Mitwirkung in der Armee verbietet. Der "Gleichheitsgrundsatz" bedeutet, daß gleiche Situationen gleich behandelt werden. Ein Nicht-Verweigerer und ein Verweigerer stellen jedoch nicht die gleiche Situation dar.

Art. 2 der Verfassung garantiert, daß "die Regierung verpflichtet ist, den Wert den menschlichen Lebens zu schützen und zu respektieren." Wird nun der Art. 4 (Militärdienst) im Lichte der Artikel 2 und 5 (Freiheitsrechte) interpretiert, so schließen die griechischen Verweigerer, daß das Parlament nicht nur die legale Grundlage vorfindet, ein KDV-Gesetz ohne verfassungsrechtliche Probleme ins Leben zu rufen, sondern daß die Regierung sogar verpflichtet ist, eine Regelung über die Kriegsdienstverweigerung vorzubereiten.

Die politische Entwicklung der KDV-Bewegung

Die politische KDV-Bewegung ist in Griechenland vergleichsweise jung. 1988 sorgte ein Hungerstreik eines Gefangenen für Aufsehen, der hiermit für die Installierung eines Zivildienstes demonstrierte. Von Seiten der Regierung wurde daraufhin, wie dies von Zeit zu Zeit auch auf Resolutionen des Europaparlaments hin geschieht, versprochen, einen Gesetzentwurf vorzubereiten, was sich jedoch wie immer als leere Worte herausstellte.

Nachdem 1990 und 1991 zwei inhaftierte Verweigerer ihre Ablehnung auch gegenüber jedem Ersatzdienst erklärten, bekam der Aspekt der Totalverweigerung stärkeres Gewicht. Zur Zeit besteht die Hauptmotivation für die Ablehnung eines Zivildienstes allerdings in der Einsicht, daß ein solcher Dienst unter den denkbar schlimmsten Vorzeichen stehen würde: Gewissensprüfung durch Regierungsorganisationen, Dauer etwa vier Jahre, Durchführung unter der Aufsicht des Verteidigungsministeriums etc.

Die griechischen OrganisatorInnen versprachen sich auch gerade vom ECOM 1995 eine weitere Entwicklung, in welche Richtung ihre Arbeit verlaufen solle / könne. Im Ergebnis kann hier festgehalten werden, daß durch die in der Woche nachfolgenden Diskussionen über Ersatzdienste und Totalverweigerung viele neue Anstöße gegen einen Zivildienst, dafür für eine radikale antimilitaristische Bewegung gefunden wurden.

Europäische Vergleiche

In den folgenden Tagen wurde die Problematik der Ersatzdienste vor allem an verschiedenen Beispielen europäischer Länder wie Dänemark, Deutschland und Spanien dargestellt. Hierbei kristallisierte sich vor allem heraus, daß alle Versuche, Ersatzdienstleistende über die Waffendienstverweigerung hinaus zu politisieren, fehlgeschlagen sind. Selbst in Dänemark, wo praktisch alle Forderungen nach einem "guten" Ersatzdienst erfüllt sind (keine wirkliche Gewissens"prüfung", Zivildienst gleiche Länge wie Wehrdienst, Arbeit in vielen verschiedenen Einrichtungen, freie Auswahl der Arbeit etc. pp.), ist die Quote der legalen Verweigerer zum einen recht gering (ca. 700 pro Jahr), zum anderen sind selbst diese nach den Angaben der - den Zivildienst favorisierenden - dänischen Vertreter unpolitisch und nicht an einer antimilitaristischen Arbeit interessiert.

Den spaßigen Höhepunkt erreichten diese Vergleiche und Diskussionen, als in einem Rollentauschspiel ein deutscher Totalverweigerer den Zivildienst und ein griechischer Ersatzdienstbefürworter die Totalverweigerung anpriesen. Neben viel Gelächter verursachte diese Szene auch eine stärkere Auseinandersetzung der GriechInnen mit den Kritikpunkten an staatlich eingeschränkten "KDV"-Rechten.

Neue Welt-Ordnung

Ab Mittwoch wurde über die Entwicklungen der Neuen Weltordnung auf die Problematik der KDV-Verbände in Europa diskutiert und Gemeinsamkeiten zusammengetragen.

Die türkischen Verweigerer (zur Geschichte dieser Bewegung vgl. OU 2/93, 1/94, 3-4/94, 5/95) erklärten, daß, während die Türkei früher eine Plattform für die Nato gegen den "Warschauer Pakt" war, sie nun als Plattform der Nato gegen die "Bedrohungen" des mittleren und nahen Osten dient - und nun eine viel größere tatsächliche militärische Bedeutung bei Kriegs-Einsätzen bekommt.

Generell hat die veränderte sicherheitspolitische Lage dazu geführt, daß die europäischen Armeen nicht mehr oder zumindest deutlich weniger als Streitkräfte zur "Landesverteidigung" angesehen werden, sondern als "friedenschaffendes" Militär, welches an verschiedenen "Brandpunkten" der Welt zum Einsatz kommt. Hierbei haben die Vereinten Nationen gezeigt, daß sie eine entscheidende Rolle in den Interessen der westlichen Hegemonialkräfte spielen. Eine Opposition in den Ländern selbst gegen diese Einsätze ist kaum festzustellen: Die ehemaligen "Friedensbewegten" sind in weiten Teilen dazu übergegangen, bei Interventionen nicht nach dem ob zu fragen, sondern nur noch nach dem wie. Auch das warum (solche Kriege überhaupt entstanden sind) bleibt auf der Strecke, so daß Konfliktursachen nur noch marginal behandelt werden.

Durch die veränderte Einsatzlage für die europäischen Armeen sind diese auch professionalisiert worden, was insbesondere einen Schritt weg von der Wehrpflicht bedeutet. Belgien hat die Wehrpflicht bereits abgeschafft, die Niederlande stoppen sie 1996, andere Länder denken intensiv darüber nach bzw. befinden sich immer wieder in einer Diskussion hierüber (so beispielsweise. Deutschland). Gleichzeitig läßt sich ein Trend zur "ökonomischen Wehrpflicht" feststellen, die Menschen aus den unteren sozialen Schichten an das Militär bindet. Diese Entwicklung findet aber keine entsprechende Kritik in der Öffentlichkeit, da sie, wenn überhaupt, nicht unmittelbar wahrgenommen wird.

Unterstützung für Deserteure

Vor diesem Hintergrund der neuen Weltordnung kommt den KDV-Bewegungen in den europäischen (Interventions-)Ländern vor allem die Aufgabe zu, Deserteure zu unterstützen, die von den Ländern, die Kriege führen, gleichzeitig nicht geduldet werden. Das Mißverhältnis von angeblich "humaner Krisenintervention" und tatsächlicher Humanität wird beispielsweise. beim Krieg im ehemaligen Jugoslawien besonders deutlich, wenn die Länder Westeuropas einerseits Krieg auf der antiserbischen Seite führt, andererseits serbischen Deserteuren den Aufenthalt (geschweige denn Asyl) verweigert und diese Menschen - um sie später ggf. selbst zu ermorden - in ihr Herkunftsland abschiebt.

Folgerichtig hat auch das ECOM die Problematik aufgegriffen und dazu beigetragen, daß Ljuba, ein serbischer Wehrpflichtiger, der bereits im Krieg war und dem nun eine erneute Einberufung zu Übungen droht, sich damit auseinandersetzen will, offen zu verweigern. Denn die Erfahrungen der internationalen Unterstützungen für die türkischen Verweigerer haben dazu animiert, gleiches für eventuelle serbische Verweigerer zu organisieren. Die Koordination für diese mögliche Solidaritäts- und Prozeßbeobachtungsgruppe soll in Dänemark liegen.

Das nächste Treffen

Auch als Folge dieses Ergebnisses wurde nach längerer Diskussion um die Gefahren und Probleme beschlossen, das nächste ECOM in der Vojvodina (Nordserbien) stattfinden zu lassen, genauer: In der geistigen Republik Zitzer, dem Dorf, welches sich kollektiv dem Kriegsdienst verweigert hat (vgl. OU 5/94). Das würde 1997 sein, wenn das nächste geplante internationale Treffen 1996 im Tschad stattfindet, was aber zur Zeit noch unsicher erscheint. Sollte dies nicht der Fall sein, so soll das Treffen in der Vojvodina bereits auf 1996, dann selbst als ICOM, vorverlegt werden.

(Detlev Beutner)


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