Aus Ausgabe 5/93 (Herbst)

Thesenpapier TKDV zum Antimilitaristischen Kongreß in Potsdam


Für den antimilitaristischen Kongreß in Potsdam ist ein Vorab-Reader erschienen, in dem die einzelnen Arbeitsgruppen vorgestellt und Thesen zur Diskussion gestellt werden. Eine AG befaßt sich auch mit der Totalverweigerung. Sie wird vorbereitet und koordiniert von der Informations- und Aktionsstelle zur Totalverweigerung (IAT) und ProTotal. Hier das Thesenpapier. (Red.)

Politische Definitionen

"Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. " (Art. 4 Abs. 3 GG). In der logischen Umkehrung lautet dieser Satz: Jeder darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst ohne Waffe gezwungen werden.

Daß diese Umkehrung in der Logik des Grundgesetzes steht, belegt eindrücklich der Artikel 12a Grundgesetz: "(3) Wehrpflichtige, die nicht zum Militär- oder Ersatzdienst herangezogen sind, können im Verteidigungsfalle durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes zu zivilen Dienstleistungen für Zwecke der Verteidigung einschließlich des Schutzes der Zivilbevölkerung in Arbeitsverhältnisse verpflichtet werden; [...]. Arbeitsverhältnisse nach Satz 1 können bei den Streitkräften, im Bereich ihrer Versorgung sowie bei der öffentlichen Verwaltung begründet werden; Verpflichtungen in Arbeitsverhältnisse im Bereiche der Versorgung der Zivilbevölkerung sind nur zulässig, um ihren lebensnotwendigen Bedarf zu decken oder ihren Schutz sicherzustellen. (4) [...] Frauen können vom vollendeten achtzehnten bis zum vollendeten fünfundfünfzigsten Lebensjahr durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes zu zivilen Dienstleistungen im zivilen Sanitäts- und Heilwesen sowie in der ortsfesten militärischen Lazarettorganisation herangezogen werden. Sie dürfen auf keinen Fall Dienst mit der Waffe leisten."

Kriegsdienst

Kriegsdienst bedeutet nicht Dienst im Krieg, sondern Dienst am Krieg, und dieser beginnt nicht erst beim Ausbruch der Feindseligkeiten, sondern bei der psychologischen, politischen und wirtschaftlichen Vorbereitung zum Kriege. Der Militärdienst ist nur eine Erscheinungsform des Kriegsdienstes.

Kriegsdienst nach Artikel 4 Abs. 3 GG

Nach Art. 12a GG sind alle Deutschen kriegsdienstpflichtig; der Kriegsdienstpflicht nach 4/3 unterliegen nur Männer. Totale Kriegsdienstverweigerung Totalverweigerung wegen 12a steht allen offen, Totalverweigerung wegen 4/3 betrifft unmittelbar nur Männer, darüber hinaus gibt es weitere denkbare Formen der Totalverweigerung, wie etwa Steuerboykott, Weigerung der Beteiligung an Rüstungsforschung und -produktion. Vor diesem Hintergrund macht es Sinn, auch in Zwischenkriegszeiten von TotalverweigerInnen zu sprechen.

Militärdienstverweigerung - MDV-Beratung

Die Beratung Kriegsdienstpflichtiger nach 4/3 kommt einer reinen "Ersatzdiensterlangungsberatung" oft sehr nahe. Die Beratung dreht sich nicht um die Verweigerung des Kriegsdienstes in seinen diversen Formen, sondern nur um die Verweigerung des einen speziellen Kriegsdiensttypus: Grundmilitärdienst. Für eine solche einseitige Beratung trifft der Name "Militärdienstverweigerungs- / MDV-Beratung" zu.

Thesen

Totalverweigerung wegen 4/3 ist eine Form des Antimilitarismus!

Zwar richtet sich Totalverweigerung gegen den Staatsanspruch auf Zwangsdienstableistung "seiner" BürgerInnen und ist von daher emanzipatorisch. Aber sie ist zugleich antimilitaristisch, da auch der Ersatzdienst Bestandteil der Militärpflicht ist. Die Verweigerung des Militär- respektive des Ersatzdienstes ist von daher gegen das Militär gerichtet, sprich antimilitaristisch. Die totale Kriegsdienstverweigerung wegen 4/3 bleibt antimilitaristisch, selbst wenn die verweigerten Dienste gar nicht dem Interesse des Militärs dienen, bzw. ihnen gar entgegenstehen.

Die Kriegsdienstpflicht gemäß 4/3 steht gegen die unmittelbaren Interessen des Militärs.

Die Tätigkeitsfelder des Militärs liegen in zunehmendem Maße im Ausland. Einsätze im Ausland sind mit motivierten, gut ausgebildeten Fachkräften effizienter und in einem höheren Maß an gesellschaftlicher Akzeptanz durchführbar, dies trifft nicht nur auf die Droh- und Mordeinsätze (Militäreinsätze) selbst, sondern auch auf die flankierenden Hilfseinsätze (Lazarettdienste, Logistik, Wartung Reparatur, Nachschub) zu. Die Suspendierung der Kriegsdienstpflicht nach 4/3 liegt im Interesse des Militärs.

Antimilitaristischer Widerstand ist in der momentanen Situation gesellschaftlich von hoher Relevanz.

Das Mobilisierungspotential für antimilitaristischen Widerstand reicht potentiell über die organisierte Friedensbewegung hinaus. Aktuelle Probleme sind:

  • Europäischer Nationalismus ("Europe first", Festung Europa; gemeint ist nicht Europa, sondern zuerst die Europäische Gemeinschaft / EG)
  • Imperialismus (Leben auf Kosten der Rohstoffländer durch Ausnutzung der eigenen politischen, militärischen und wirtschaftlichen Vormachtstellung der Industrieländer)
  • Umweltzerstörung (die Ursachen liegen in den Industrieländern, z.B. unsere Energie- und Rohstoffverschwendung)
  • Gentechnik-, Atomtechnik-, Informationstechnik-, etc-Technik-Gefahren
  • Umverteilung von unten nach oben (Sozialkürzungen, Reallohneinbußen), - Bildungs- und Informationsverarmung (Kürzungen im Bildungsbereich, Verarmung der Medienvielfalt)
  • Einschränkung der Menschenrechte (staatliche und rassistische Antastung der Würde des Menschen, Recht auf Arbeit, Recht auf soziale Absicherung, Recht auf Bildung, Demonstrationsrecht, Recht auf Asyl, ...)
  • Ausbreitung neuer Seuchen, etc. pp.

Wo bleibt da der Raum für antimilitaristischen Widerstand? Und doch: Militärische Drohung und militärische Interessendurchsetzung bilden eine wesentliche Grundlage für die Handlungsweisen von Staaten sowie Staatengemeinschaften gegen die Interessen der eigenen und der Weltbevölkerung. Antimilitarismus als Bewegung gegen eine der Säulen staatlicher Machtdurchsetzung arbeitet zwangsläufig gegen die Politik , für dessen Durchsetzung das Militär benötigt wird (siehe oben).

Antimilitarismus muß aus seinem Ghetto "Friedensbewegung" heraustreten und für Unterstützung seiner Arbeit in anderen politisch aktiven Gruppen werben.

Die Friedensbewegung "schmort" im eigenen Saft und beachtet zu wenig die anderen Politikfelder (siehe dazu Vorthese). Aus diesem Grund werden gemeinsame Handlungsperspektiven übersehen und besteht ein Nebeneinanderher bzw. Gegeneinander der politischen Arbeit.

Die Toti-Szene kann einen Beitrag leisten zur Zusammenarbeit friedenspolitischer Gruppen mit anderen politisch und kulturell aktiven Gruppen.

Die Toti-Szene besteht aus Menschen, die in der Regel nicht aus der organisierten Friedensbewegung kommen. Totis kommen aus sehr unterschiedlichen sozialen, kulturellen, politischen Zusammenhängen; der größte Teil sind direkt Betroffene, die quasi gegen ihren Willen vom Staat zu gemeinsamer politischer Arbeit gerieben werden. Totis scheiden deshalb aus dieser Zweckgemeinschaft 'Toti-Szene' aus, wenn der staatliche Druck entfällt (z.B. durch Ausmusterung, Abschluß der strafrechtlichen Verfolgung).

Damit einzelne Toti-Schicksale in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden und sich Protest regt, nehmen Totis breite Kontakte zu allen möglichen politischen Gruppen auf und tragen ihr Thema in die politische Diskussion dieser Gruppen hinein. Über das Vehikel 'menschliches Einzelschicksal' gelingt es so, antimilitaristische Argumente in Kreise zu tragen, die sich sonst nicht mit antimilitaristischen Themen auseinandersetzen.

Und in friedenspolitischen Kreisen gelingt es den Totalverweigerern, staatskritische Diskussionen und die kritische Selbstreflektion anzuregen. Teilen der Friedensbewegung scheint Totalverweigerung kein probates Mittel politischen Widerstands; bloß fällt es auf der anderen Seite schwer, entschlossene Antimilitaristen im Stich zu lassen. Wird die Solidarität friedenspolitischer Gruppen von Betroffenen eindringlich eingefordert, bleibt sie in der Regel auch nicht aus; und über die geleistete Solidarität gewinnen die politischen Positionen für Totalverweigerung an Akzeptanz in der Friedensbewegung. Die geleistete Solidarität für einzelne Totalverweigerer führt lokal auch zu Kontakten zwischen den unterschiedlichen Gruppen.

Totalverweigerung ist die einzige Form offener Kriegsdienstverweigerung.

Militärdienstverweigerung nach 4/3 ist keine Weigerung, Kriegsdienst zu leisten, und stellt auch nicht die Kriegsdienstpflicht selbst in Frage. Militärdienstverweigerung heißt Ableistung des waffenlosen Kriegsdienstes.

Die unkritische Propagierung des Ersatzdienstes ist im Sinne des Militärs und des Staates. Lange Zeit wurde argumentiert, Militärdienstverweigerung nach 4/3 politisiere die Betroffenen, massenhafte MDV bringe das Militär in Personalprobleme, Aufrufe zur MDV würden die Akzeptanz des Militärs angreifen.

Wir wissen: Der Politisierungseffekt ist spätestens nach der Liberalisierung der Anerkennungspraxis kaum vorhanden, das Militär hat genügend Bewerber, und durch die liberale MDV-Regelung ist die Akzeptanz der Kriegsdienstpflicht gemäß 4/3 abgesichert worden.

Die öffentliche Haltung der Friedensbewegung zum Ersatzdienst muß sich radikal ändern, will sie nicht den Interessen des Staates dienen. Der Ersatzdienst muß als das entlarvt werden, was er ist: "Kriegsdienst ohne Waffe", und die Totalverweigerung muß als eine inhaltlich wohlbegründete Form politischen Widerstandes öffentlich gemacht werden.

Natürlich ist Ersatzdienst friedenspolitisch gesehen 'harmloser' als Militärdienst, aber der Unterschied zum Militärdienst ist nur quantitativ, nicht etwa, wie in Vergangenheit von der Friedensbewegung oft suggeriert, qualitativ: Der Ersatzdienst ist als "Kriegsdienst ohne Waffe" das Gegenteil von Friedensdienst. Jedoch 'harmloser' ist der Zuvieldienst nur unter dem eingeengten Blickfeld der friedenspolitischen Sichtweise, er ist z.B. unter sozialpolitischer Sicht das genaue Gegenteil. Zuvieldienst ist in vieler Hinsicht schädlicher als Militärdienst, Problembereich sind: Lohndrückerei, Streikbrecherei, Jobkillerei, Pflegerisiko etc.

Eine kritische Haltung zum "Kriegsdienst ohne Waffe" soll natürlich nicht dazu führen, Betroffene individuell zur Totalverweigerung zu ermuntern. Eine Entscheidung zur Totalverweigerung kann im Extremfall so einschneidende Folgen haben, daß eine individuelle Ermunterung zu diesem Schritt verantwortungslos erscheint. Vonnöten ist Information, Begleitung, Beratung, aktive Solidarität, Verständnis, Sensibilität. All dies soll natürlich die Toti-Zahlen in die Höhe treiben, ist aber etwas entscheidend anderes, als der individuelle Ratschlag an einen Betroffenen, seinen Kriegsdienst umfassend zu verweigern.

Die Friedensbewegung sollte ihr verkrampftes Verhältnis zur Drückebergerei grundlegend überdenken.

Angesichts der staatlich eingeräumten Alternativen (Kriegsdienste oder Totalverweigerung) sollte die Friedensbewegung mehr Verständnis für all die haben, die den dritten Weg wählen. Drückebergerei mag oft unreflektiert (unpolitisch) sein, bloß trifft dies auch für die Ableistung des "Kriegsdienstes ohne Waffe" zu, wie aus der MDV-Beratung hinlänglich bekannt ist. Andererseits kann auch Drückebergerei politisch motiviert sein, etwa wenn ein Betroffener den Ersatzdienst als Kriegsdienst und/oder Zwangsdienst ablehnt, aber den Schritt zur offenen Totalverweigerung bewußt nicht geht.

Die politische Bewertung der Drückebergerei sollte nicht die persönliche, sondern einzig die politische Motivation berücksichtigen. Oder anders: Es geht die Friedensbewegung einen Scheißdreck an, warum jemand für sich den Weg der Drückebergerei wählt, solange diese Entscheidung dezidiert politisch motiviert ist, und politisch motiviert ist diese Entscheidung, wenn dahinter ein klares Bild der Strukturen und Prinzipien der Kriegsdienstpflicht steht.

Drückebergerei sollte zunehmend als politisch-gesellschaftlich akzeptable, ja prinzipiell begrüßenswerte Form von KDV angesehen werden. Drückebergerei sollte nicht Privileg gebildeter und begüterter Schichten bleiben (Söhne aus Bankiers-, Industriellen-, PolitikerInnen-Familien, Spitzensportler). Die Drückeberger- und Toti-Szene sollte ihr Hauptargument gegen den Ersatzdienst richten, auf dessen Ersatz- und Zwangsdienstcharakter.

Der Ersatzdienst ist als Ersatz zum Militärdienst zu verstehen, der Ersatzdienst kann nicht losgelöst vom Militärdienst gesehen werden: Ohne Militärpflicht keine Ersatzdienstpflicht!

Ein rein ziviler Zwangsdienst, nur für Männer, ist politisch nicht durchsetzbar, und eine Zwangsdienstpflicht für Frauen und Männer ist ohne militärischen Hintergrund nicht denkbar.

Alleine das "Vorhandensein" eines Ersatzes des Militärdienstes unterstützt die Existenz der Militärdienstpflicht. Der Ersatzdienst ist Teil der Kriegsdienstpflicht oder anders formuliert:
Ersatzdienstableistung bedeutet Erfüllung der Kriegsdienstpflicht gemäß Art. 4 Abs. 3 GG.

Es ist egal, wie dieser Ersatzdienst aussieht: Ob es nun ein Ersatzdienst bei "Greenpeace" oder "Aktion Sühnezeichen - Friedensdienste" oder ob es ein Dienst beim "Zivilschutz" ist - egal, ob gesetzlich vorgesehen ist, im Kriegsfall die ehemaligen Ersatzdienstleistenden bevorzugt zum zivilen kriegswichtigen Dienst heranzuziehen oder ob der Ersatzdienst organisatorisch, planerisch, gesetzlich völlig losgelöst vom Militär- und Behördenapparat existiert.

Der Ersatzdienst sollte in seiner schieren Existenz abgelehnt werden, die Natur des Ersatzdienstes ist für die Ablehnung von nachgeordneter Bedeutung. Wir fordern keine an die Wurzeln greifende Reform des Ersatzdienstes! Wir fordern die Abschaffung des Ersatzdienstes! Auch ein für sich gesehener "guter" und gut bezahlter (Tariflohn oder darüber) Ersatzdienst ist abzulehnen, weil bereits die Akzeptanz des Ersatzdienstes die Akzeptanz der Militärpflicht mitbeinhaltet.

Aber der Ersatzdienst ist auch bei Wegfall der Militärdienstpflicht abzulehnen. Der Staat maßt sich an, ohne daß Staatsnotstand besteht, über "seine" BürgerInnen zu verfügen, diesen Staatsanspruch lehnen die TotalverweigerInnen ab: Ersatzdienst ist alleine deshalb abzulehnen, weil er ein Zwangsdienst ist und weil er abgeleitet ist aus einem antidemokratischen totalen Anspruch des Staates auf das Leben und die Lebenszeit "seiner" BürgerInnen.

Politische Begründung von Totalverweigerung sollte nicht mit dem Kriegsfall argumentieren.

Erstens ist ein Krieg in Deutschland unwahrscheinlich, sprich hypothetisch. Zweitens leistet der Kriegsdienst seinen verheerendsten Beitrag zum Krieg vor dem eigentlichen Kriegsausbruch. Genauso wie das Vorhandensein des Militärs vor dem Krieg seinen verhängnisvollsten, weil wesentlichsten Kriegsdienst leistet, alleine indem es vor einem tatsächlichen Einsatz für eine Droh- und Kriegsfähigkeit sorgt.

Totalverweigerung muß aus dem Ruch des Märtyrertums herausgeholt werden.

Keiner liefert sich freiwillig den Strafbehörden aus. Keiner sucht die Strafe. Keiner trifft freiwillig die Entscheidung zur Totalverweigerung: Der Staat treibt die Betroffenen in die Totalverweigerung! Er läßt ihnen keine Wahl!

TotalverweigerInnen sind auch keine politischen Wirrköpfe oder unpolitischen Einzeltäter: Totalverweigerung ist eine hochpolitische Tat. Inhaftierte TotalverweigerInnen sind als politische Gefangene und die Verurteilungspraxis als politische Justiz anzusehen.


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